Über Stock und Stein auf dem Bildungsweg
23.07.2020 - 10:36 | Christian PossaArmut, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus – Leskovac im Süden Serbiens ist eine gebeutelte Stadt. Wie man Jugendlichen trotzdem eine Perspektive geben kann, zeigt ein Projekt, das sie mit individuellen Förderplänen für den Übertritt ins Berufsleben fit macht.
Der Innenhof der Grundschule Petar Tasic ist eine kleine Oase im herausfordernden Schulalltag. Inmitten der Grünfläche in der Grösse eines Tennisplatzes lädt eine Holzlaube zum Verweilen ein. Drumherum hat eine handvoll Jugendlicher soeben einige Bäume gepflanzt. Stolz posieren sie für ein Erinnerungsbild, die Schaufel in der einen Hand, die Andere zum Hangloose geformt. Mit seinen polierten Lackschuhen, dem zugeknöpften Hemd und der dunklen Bundfaltenhose sticht Goran Filipovic zwischen den Teenagern in Snearkers, zerrissenen Jeans und Kapuzenjacken hervor. Der Schuldirektor gehört trotzdem dazu. Denn die Jugendlichen wissen, dass er sich dafür ins Zeug legt, dass sie den Sprung in die Sekundarschule schaffen.

«Appell an die Autonomie»
Die Ausgangslage ist keine einfache. «Petar Tasic ist eine stark segregierte Schule», beginnt Goran Filipoviczu erzählen. «Viele sind Roma und kommen aus sehr armen Verhältnissen». Viele Eltern treibt die Suche nach Arbeit in weit entfernte Regionen, was zur Folge hat, dass bei 80 Prozent der Kinder die Eltern nicht zuhause sind. «Oft nehmen die Eltern ihre Kinder auch zur Arbeit mit und so fehlen sie dann einfach mal zwei Monate.»
Seit 2017 ist die Schule Teil des Projektes «Gemeinsam in die Sekundarschule» der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi und der lokalen Partnerorganisation Centre for Education Policy (CEP). Dieses zielt darauf ab, die Übergangsrate in die Sekundarschule dank individueller Fördermassnahmen, verbesserter beruflicher Orientierung sowie dank intensiver Kapazitätsentwicklung der Lehrkräfte und Schulen zu erhöhen. Auf persönlicher Ebene geht es aber auch darum, eine Veränderung der Einstellung herbeizuführen. Eine Geisteshaltung, in der Bildung mehr wertgeschätzt wird – bei den Schülerinnen und Schülern sowie bei ihren Eltern.

Es ist kurz nach zehn Uhr. Vom Zwischenpodest der massiven Steintreppe führt eine unscheinbare Türe ab. Im Schulzimmer dahinter hat sich ein gutes Dutzend Schülerinnen und Schüler eingefunden, um gemeinsam mit Jasmina Milosevic Mathematik zu büffeln. Die Jugendlichen brüten an zwei Tischblöcken über ihren Aufgabenheften. Zwischendurch heben sie die Köpfe, um den Ausführungen der Professorin an der Wandtafel zu folgen. Die Vorbereitungsklassen sind freiwilliger Natur. «Ein Appell an die Autonomie», sagt Jasmina Milosevic. Man habe es auch andersrum probiert, aber das habe nicht funktioniert. Auf die Frage, wo der Hauptfokus der Gruppe liege, antwortet die Lehrerin: «Vorheriges und zukünftiges Wissen zusammenführen.»
Früh über berufliche Zukunft nachdenken
Zronko besucht die achte Klasse. Die Abschlussprüfungen sind für ihn die letzte grosse Hürde auf dem Weg ins Berufsleben. Der 15-Jährige büffelt nicht mit überschwänglicher Euphorie, dafür mit einem klaren Ziel vor Augen: Mehr Punkte beim Abschlussexamen. «Dann kann ich diejenige Sekundarschule besuchen, die ich will», erzählt er. Das serbische Schulsystem sieht acht obligatorische Grundschuljahre vor. Danach, im Alter von 15 Jahren, können Jugendliche – abhängig von der Punktzahl an der Abschlussprüfung – entscheiden, ob sie ein allgemeines Gymnasium oder eine berufsvorbereitende Sekundarschule besuchen möchten. In bitterarmen Städten wie Leskovac, wo kahles Gestrüpp auf den Hallendächern der einst blühenden Textilindustrie wuchert und wo die hohe Arbeitslosigkeit Stellensuchende in weite Ferne treibt, ist das Angebot an Berufsschulen überschaubar.
«Aber immerhin bringen die verbleibenden Fabriken hier noch Jobs», sagt Goran Filipovic. Der Schuldirektor trotzt der herausfordernden Situation in seiner Heimat mit einer positiven Denke. Er fokussiert darauf, was für seine Schülerinnen und Schüler möglich ist. Und er sieht Veränderungen, die nur dank des Projekts entstanden sind. «Die Kinder beginnen früher über ihre berufliche Zukunft nachzudenken und wissen genauer, was sie einmal machen wollen.» Die Probe aufs Exempel in der Mathematik-Förderklasse bestätigt die Aussage. Antonio und Josif wollen Koch lernen, Zoran und Zronko bevorzugen den Schwerpunkt Medizin.

Elementare Beziehungsarbeit
Jasmina Milosevic zählt an der Petar Tasic fast schon zum Inventar. Seit 1996 unterrichtet sie hier und ist ihren Steckenpferden Mathematik und Physik stets treu geblieben. «Ich mag Kinder und darum unterrichte ich auch, seit ich jung bin», erzählt sie später bei einem Kaffee in der Holzlaube im Innenhof. Von der individuellen Herangehensweise im Projekt und den gezielten Weiterbildungen für die Lehrpersonen ist sie voll überzeugt. «Die gesteigerte Übertrittsrate von der Grund- in die Sekundarschule ist der grösste Gewinn des Projektes.» Aber auch zwischenmenschlich sei in den letzten drei Jahren viel passiert. «Die Kinder entwickeln aufgrund der Übertrittstrategien Vertrauen in die Lehrpersonen. Und die Eltern sind viel stärker involviert und öffnen sich. Das verbessert die gegenseitige Beziehung.» Das war nicht immer so. Jasmina Milosevic erinnert sich daran, wie ihnen zu Beginn des Projektes die Skepsis der Eltern wie ein eisiger Wind ins Gesicht gefegt habe. «Als sie dann unser Vertrauen spürten und den Mechanismus des Projektes verstanden, entspannten sich zuerst die Mütter und dann auch die Väter.»
Es ist kurz nach zwölf. Zwei Schulklassen schreiten mit Projektkoordinator Vitomir Stancovic durch Leskovac. Vorbei an altersschwachen Yugos des Automobilherstellers Zastava, die sich am Strassenrand von den Hieben der Schlaglöcher erholen, vorbei an kleinen Geschäften, die mit ihren ausgestellten Produkten das schmale Trottoir garnieren. Das Ziel der Gruppe: Srednja hemijsko-tehnicˇ ka škola, die Sekundarschule für Chemieingenieurwesen. In Vorträgen berichten Studierende von ihrem Alltag und im Labor dürfen die Grundschülerinnen und -schüler kleineren Experimenten beiwohnen und dabei selber mitwirken. Als die Jugendlichen eine schaumähnliche Paste in ihrer Hand entzünden dürfen, springt der Funke definitiv über. Begeisterung und Neugier steht zwar auch Zronko ins Gesicht geschrieben, von seinem Berufswunsch abbringen lässt sich der 15-Jährige durch die Spielereien aus dem Chemielabor aber nicht.