«Online-Kurse haben ein unglaubliches Potenzial»
14.12.2020 - 09:25 | Christian PossaErlebnispädagogik am Bildschirm, Selbstfindung im Grossraumbüro, Austausch im Gruppenchat –funktioniert das? Gemeinsam mit Lernenden der Raiffeisenbank hat das erste Onlineprojekt der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi stattgefunden. Die Pädagog*innen Barbara Germann und Julian Friedrich über die Tücken und Möglichkeiten der digitalen Interaktion.

Ursprünglich geplant war ein Austauschprojekt mit Jugendlichen aus Südosteuropa. Da dies terminlich nicht passte, hattet ihr das Projekt zu einer in sich geschlossenen Themenwoche, final aufgrund der Corona-Situation zu einem reinen Online-Projekt weiterentwickelt. Hat sich dadurch die Zielsetzung verändert?
Barbara: Was sehr schön ist: Die Raiffeisenbank als Partnerin setzt grosses Vertrauen in uns, dass wir das richtige Gespür dafür haben, mit den Jugendlichen zusammen die relevanten Themen zu finden. Für sie lag ein zentraler Fokus ungeachtet des Projektformates darin, den Zusammenhalt unter den Lernenden zu stärken.
Julian: Thematisch haben wir uns mit Konflikten und alternativen Konfliktlösungen, Werten sowie mit Diskriminierung beschäftigt. Zum Abschluss der Woche haben die Jugendlichen Traumreden inspiriert durch die Rede von Martin Luther King gehalten und darin von ihnen Anfang Woche definierte Ungerechtigkeiten wieder aufgegriffen.
Wie sind Eure Erfahrungen und Eindrücke aus dem ersten rein online durchgeführten Projekt?
Barbara: Angesichts der Kürze der Vorbereitung und der Komplexität von Teams war ich schon recht nervös auf die Woche. Der erste Input am Montagmorgen war noch sehr holprig, aber danach ging es immer besser. Gleichzeitig ergeben sich in diesem Format viele Möglichkeit, die man sonst nicht hat.
Zum Beispiel?
Barbara: Dass man eine Grossgruppe in beliebig vielen Gruppenräumen ungestört arbeiten lassen kann.
Julian: Oder, dass es viel schneller und einfacher geht, Videos einzubinden, beispielsweise um ein Thema zusammenzufassen. Auch die Chat-Funktion ist sehr hilfreich. Damit können die Jugendlichen relativ niederschwellig Kommentare abgeben.
Wie habt ihr diese Elemente eingebunden?
Julian: Wir haben generell darauf geachtet, dass wir Diskussionen anregen und wo möglich auch erlebnispädagogisch arbeiten können. Die Chat-Funktion haben wir oft bei Aufwärmübungen eingesetzt. Ein Beispiel: Während sich eine Person vorgestellt hat, haben wir im Chat eine offene Frage über diese Person gestellt, auf die dann die anderen eine Einschätzung abgeben konnten. So haben wir das gegenseitige Kennenlernen mit einem interaktiven Element verknüpft.
Wie gut hat es am Bildschirm funktioniert, einen vertrauensvollen Rahmen zu schaffen, in welchem sich die Teilnehmenden zu äussern getrauen?
Julian: Es war herausfordernd, dieselbe Nähe hinzukriegen wie an unseren Kursen im Kinderdorf. Die Vertrautheit ist jedoch über die Woche kontinuierlich gewachsen. Am Freitag haben sich die Jugendlichen im Vergleich zum Montag viel eher getraut, sich in der grossen Gruppe zu äussern.
Barbara: Wir haben in zwei Gruppen à ca. 16 Jugendliche gearbeitet, eine am Vormittag, die andere am Nachmittag. Die Entwicklung war recht unterschiedlich. Zu Beginn der Woche lief es mit der Nachmittagsgruppe immer besser, dann war plötzlich die Morgengruppe viel aktiver.
Was sind diesbezüglich eure Learnings für ein nächstes Mal?
Barbara: Ich würde die Chat-Funktion vermehrt einsetzen, um die einzelnen Teilnehmenden besser abzuholen. Ebenfalls als wertvoll herausgestellt hat sich gemeinsames Lachen und das Schaffen von witzigen Momenten . Dem würde ich noch mehr Gewicht geben. Und ich würde in einem nächsten Projekt gerne die Sprechzeit der Teilnehmenden gegenüber unserer erhöhen. Ich fühlte mich fast konstant in der Verantwortung, ja fast schon als Animatorin.
Julian: Mir geht’s da ähnlich. Im Kinderdorf haben wir einen breiten Fundus an Übungen, die funktionieren, sodass wir sehr prozessorientiert unterwegs sein können. Dadurch, dass wir noch nicht alles ins Online-Setting übertragen haben, ist unser Methodenkoffer noch relativ leer. Dies möchte ich bis zum nächsten Mal ändern. Die Gruppen schätzen das sehr, dass man ein Thema anschneiden kann und wir dann gleich etwas Passendes bereit haben – auf sie zugeschnitten und nicht einfach irgendein Programm.
Sassen die Jugendlichen am Arbeitsplatz oder Zuhause?
Barbara: Das ist ein wichtiger Punkt. Die Gruppe war teilweise im Homeoffice, teilweise am Arbeitsplatz. Gerade wenn sie mit Kopfhörern im Grossraumbüro sassen, war die Hemmschwelle, beherzt teilzunehmen, natürlich hoch.
Was für Rückmeldungen habt ihr von den Lernenden erhalten?
Barbara: Sie fanden die Projektwoche sehr wertvoll. Einige haben uns im Chat geschrieben, dass Themen angesprochen wurden, die man zwar kenne, sich aber nicht die Zeit nehme, um darüber nachzudenken. Sie haben uns inhaltlich wie auch methodisch positive Rückmeldungen gegeben.
Julian: Ein Teilnehmer schrieb mir im Anschluss an einen Input zum Thema Diskriminierung, dass er realisiert habe, dass er sich mehr trauen muss, Dinge mitzuteilen und anzusprechen. Er fand das Thema sehr spannend und wichtig.
Was für ein Fazit zieht ihr aus dem Workshop?
Julian: Online-Projekte haben ein unglaubliches Potenzial in Punkt auf: mit wem habe ich Austausch und wer nimmt alles daran teil. Eine weitere Schlussfolgerung ist, dass man die beiden Formen des miteinander-unterwegs-seins nicht miteinander vergleichen darf. Im direkten Vergleich liegt mir die reale Begegnung näher, da man das Gegenüber besser einschätzen, sich viel direkter unterhalten und schneller Kontakt aufnehmen kann. Auf der anderen Seite eliminieren Online-Kurse geografische Distanzen und machen Austausche möglich, die in der jetzigen Situation nicht hätten stattfinden können.
Barbara: Ich sehe es als grosse Chance. Es gibt wahnsinnig viele spannende Apps, die unglaublich viele Möglichkeiten bieten. Zudem lässt sich die Thematik der sozialen Medien so natürlich sehr gut aufgreifen. Beispielsweise, wenn man darüber spricht, wie viel von seiner Persönlichkeit man in Teams preisgeben will, indem man persönliche Räume im Hintergrund zeigt oder nicht. Insgesamt fand ich es eine fantastische Erfahrung, wenn auch energiemässig sehr anstrengend.
Inwiefern?
Barbara: Es ist verblüffend, wie viel Vorbereitung es braucht, um flüssig präsentieren zu können. Online kommt viel schneller das Gefühl auf, dass man stille Momente füllen muss.
Julian: Die Erwartungshaltung der Teilnehmenden ist gefühlt einfach grösser. Diejenigen, die den Kurs leiten, sind in der Verantwortung, dass etwas passiert. Bei Begegnungskursen haben die Teilnehmenden die Möglichkeit Zwischengespräche mit der Sitznachbar*in zu führen, einen Austausch den wir gerne zulassen und fördern. Dieser Austausch findet so im digitalen Raum nicht statt.