Kulturschock macht Bock auf mehr
17.04.2020 - 11:29 | Christian PossaZuerst ist sie überfordert, dann will sie nicht mehr nach Hause zurück. Yllza besuchte 2017 das Summer Camp im Kinderdorf und hat dort zwei Wochen erlebt, die ihr Leben verändert haben. Drei Jahre später kehrt die 19-Jährige als Betreuerin einer Gruppe nach Trogen zurück.

Yllza wächst in Pershefce auf. Das Dorf im Nordwesten Nordmazedoniens liegt keine zehn Kilometer Luftlinie von Kosovo entfernt. 99 Prozent der Bevölkerung sind Albanerinnen und Albaner. Umgeben von dieser ethnischen Homogenität und aufgewachsen in einem sehr konservativen Elternhaus, bieten sich der Jugendlichen kaum Möglichkeiten, sich mit anderen Nationalitäten auszutauschen. Als Yllza 2017 am Summer Camp teilnimmt, ist sie anfangs von der Vielfalt im Kinderdorf überfordert. «Als ich ankam, weinte ich und wollte nach Hause zurück», erinnert sie sich. Ihr heutiger Chef Metin Muaremi spricht gar von einem Kulturschock. Doch schon nach wenigen Tagen legte sie – beflügelt vom Austausch mit den anderen Jugendlichen und der vertrauensvollen Beziehung zu den Pädagoginnen und Pädagogen – eine beeindruckende Kehrtwende hin. Sie öffnete sich, wurde gesprächiger und lernte viel darüber, mit Konflikten umzugehen und Lösungen zu finden. Sie habe sich komplett verändert, gerade auch in ihrer Art zu denken, findet Metin Muaremi. «Vorher war sie jemand, der sich um nichts kümmerte und einfach genoss. Jetzt ist sie viel verantwortungsbewusster.» Diese Einschätzung teilt die 19-Jährige und ergänzt: «Ich habe viel mehr positive Energie und ich habe viel weniger Vorurteile gegenüber Menschen, die ich nicht kenne.»
Abschied und Neuanfang
Je näher das Ende des Summer Camp rückte, desto mehr widerstrebte Yllza die Vorstellung, nach Hause zurückkehren zu müssen. Metin Muaremi, Direktor der Partnerorganisation Center for Education and Development (CED), weilte in jenem Jahr nicht als Begleiter in Trogen, hatte aber bemerkt, dass Yllza die Heimkehr schwerfiel. Als sich die Jugendliche an die nordmazedonische Organisation wendete, bot er ihr an, als Freiwillige mitzuwirken. «Das Summer Camp wird zu Ende gehen, aber du kannst eine andere Art finden, um damit fortzufahren: hier in Nordmazedonien.»
«Ich will diesen Pestalozzi-Spirit in meinem Herzen behalten.»
Yllza kniet sich bei CED voll rein und steigt von der freiwilligen Mitarbeiterin zur Jugendkoordinatorin auf. In dieser Funktion ist sie Ansprechpartnerin für alle ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Da CED auch Camps für Kinder und Jugendliche anbietet, kann Yllza eigene Erfahrungen aus dem Kinderdorf in ihre Arbeit einfliessen lassen. «Die Zeit hier hat mir geholfen, da ich am eigenen Leibe erfuhr, wie man mit Kindern umgehen kann.» Blickt die junge Erwachsene auf ihren Aufenthalt in Trogen zurück, kommt sie immer wieder auf die Menschen zu sprechen, die sie so unerwartet offen empfangen haben. Und sie schwärmt von der positiven Energie, die ihr damaliges noch kindliches und naives Ich so beflügelt hat. «Ich will diesen Pestalozzi-Spirit in meinem Herzen behalten.»
Bewährungsprobe bestanden
ls Direktor von CED erlebt Metin Muaremi aus unmittelbarer Nähe, wie sich Yllza persönlich weiterentwickelt – wie sie zusammen mit zwei Freiwilligen ein ganzes Sommercamp durchführt, wie sie mit den Menschen umgeht. Sie sehe die Welt jetzt anders, findet er. «Mit der Arbeit in der Organisation und durch ihre neue Art zu denken und Dinge zu verstehen, hat sie auch ihre Gesellschaft beeinflusst.» Aus der schüchternen Jugendlichen ist eine selbstbewusste junge Erwachsene geworden, die ihrem Ziel, ins Kinderdorf zurückzukehren, ein grosses Stück näher gerückt ist. «Als ich 2017 nach Hause ging, sagte ich: Ich will wieder nach Trogen gehen, wieder und wieder.» Dass es jetzt so weit ist, freut sie ungemein. Gross ist auch ihre Begeisterung, Daniel und Pascal wiederzutreffen. Jene Pädagogen, die damals dafür gesorgt hätten, dass sie sich so willkommen gefühlt habe.
Mit ihren 19 Jahren ist Yllza nur wenig älter als die Jugendlichen, die am Austauschprojekt im Kinderdorf teilnehmen. Dies habe sie vorgängig natürlich schon beschäftigt, jedoch sei sie von der Gruppe gut akzeptiert. Metin Muaremi erklärt, dass man den Teilnehmenden bewusst nicht nur eine Perspektive des Lernens oder einen Ansatz, Dinge zu regeln, zeigen wolle. «Ich bin vielleicht autoritärer, aber sie ist freundlicher, und dadurch werden ihr die Kinder mehr erzählen als mir.»
«60 bis 70 Prozent der Jugendlichen werden zu Hause aktive Bürgerinnen und Bürger und führen Organisationen an.»
Metin Muaremi – Direktor CED
Einig sind sich die beiden auch darin, dass die Austauschprojekte im Kinderdorf eine nachhaltige Wirkung im Heimatland entfalten. Die Projekte würden die Art zu denken verändern, sagt Yllza. «Als ich zurückkehrte, hatte ich viele Ideen, was ich tun oder wie ich arbeiten wollte.» CED bringt seit zehn Jahren jährlich 40 Jugendliche für einen Austausch nach Trogen. «Die Erfahrung zeigt, dass 60 bis 70 Prozent zu Hause aktive Bürgerinnen und Bürger werden und Organisationen anführen», so Metin Muaremi. Als Beispiel nennt er nationale, ethnisch gemischte Studentenorganisationen, Leseclubs oder Webradios. «Wenn jemand, der ein Teil von uns war, etwas weitermacht und die Arbeit auf eine andere Art fortführt, motiviert mich das sehr.»