Zwischen Grenzen und Gesetzen

13.12.2020 - 08:02 | Christian Possa

Im Nordwesten Thailands unterstützt die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi besonders vulnerable Familien mit Grundnahrungsmitteln, Hygieneartikeln und Schulmaterialien. Die Corona-Pandemie trifft Migrant*innen aus Myanmar besonders hart und macht es extrem anspruchsvoll, ihren Kindern Zugang zu Bildung gewährleisten zu können.

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Die komplexen Herausforderungen auf dem Bildungsweg sind eng mit Fragen der Identitätsdokumentation, Gesundheit, Gemeinschaft sowie Arbeit und Sicherheit verknüpft. Ein Beispiel: Kinder öffentlicher Schulen konnten bereits Mitte 2020 in die Klassenzimmer zurückkehren. Nicht so jene, die Schulen in Grenzgebieten besuchen oder Migrantenkinder, die nach Hause (Myanmar) gingen und nicht rechtzeitig vor den Grenzschliessungen zurückkehren konnten. Sie alle verpassen seit Monaten die Schule und stehen vor der Herkulesaufgabe, alles aufholen zu müssen. Dazu kommt, dass die Lernzentren, die sie besuchen, strengen Vorschriften unterworfen sind. Denn die thailändischen Behörden befürchten, dass illegale Migrant*innen aus Myanmar das Coronavirus einschleppen könnten. Ganze 44 Kriterien seitens des Gesundheitsministeriums gilt es zu erfüllen, um den Schulbetrieb überhaupt aufnehmen zu können. Regelmässige Körpertemperaturmessungen, Hygienemasken, konsequente Sicherheitsabstände – für viele Lernzentren, denen es eh schon an allen Ecken und Enden fehlt, ein Ding der Unmöglichkeit.

Kaum Infrastruktur für Online-Unterricht

Saw Pway Doh leitet das Thoo Mweh Khee Lernzentrum in der Tak-Provinz, unweit der Grenze zu Myanmar. Die meisten seiner Schülerinnen und Schüler kommen zum Lernen über die Grenze, etwa 20 Kinder leben permanent mit ihren Eltern in Thailand. Aus Angst vor dem Corona-Virus sind fast alle nach Myanmar zurückgekehrt, geschlossene Grenzen verhindern eine Rückkehr. «COVID-19 hat viele Probleme gebracht», erzählt Saw Pway Doh. «Wir können unsere Schülerinnen und Schüler nicht an der Schule unterrichten.» Bei den Älteren versuche man es seither mit Online-Unterricht.

«Ich bleibe trotz Covid-19 hier, da ich die Kinder unterrichten und ihnen das Beste von mir geben will.»

Paw Moo Day – Primarschullehrerin und Schulleiterin
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Die Unterstützung mit Grundnahrungsmitteln hilft Schüler*innen und Lehrpersonen gleichermassen: Schulleiter Saw Pway Doh (rechts im Bild) während der Verteilung.

Doch die technischen Herausforderungen sind gewaltig: «Von 350 Studierenden besitzen vielleicht zehn einen Computer. Der Rest arbeitet am Telefon, welches oft noch mit Geschwistern geteilt werden muss», sagt Brandon Newlin. Der US-Amerikaner unterrichtet seit bald zwölf Jahren als freiwilliger Lehrer an der abgelegenen Schule für Migrantenkinder aus dem burmesische Karen-Staat. Schlechter Internetempfang erschwert den Online-Unterricht zusätzlich. Saw Pway Doh berichtet von Studierenden, die auf Bäume klettern oder auf höhere Berge steigen müssen, um überhaupt Empfang zu haben. Während der Regenzeit kommt es nicht selten vor, dass über mehrere Wochen überhaupt keine Verbindung zustande kommt.

«Wir kennen die Schwächen des Online-Lernens», sagt Brandon Newlin und spielt dabei auf den Wert des zwischenmenschlichen Austausches im physischen Unterricht an. Und trotzdem sei es zu wichtig, um es für das ganze Jahr aufzugeben. «Also tun wir unser Bestes, um den Schülerinnen und Schülern in dieser Situation die bestmöglichen Bildungsmöglichkeit zu bieten.» Berufskollegin Paw Moo Day, die selber hier zur Schule gegangen ist und nun eine andere Primarschule leitet, pflichtet ihm bei: «Es ist ganz wichtig, dass die Kinder gebildet aufwachsen können.» Darum gebe sie ihr bestes, ihren Schülern Chancen zu bieten, um lernen zu können. «Das ist der Grund, warum ich trotz COVID immer noch hier bin.»

Wenn die Lebensgrundlage wegfällt

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Empfindet die vielen Regeln zur Prävention von Covid-19 als sehr anstrengend: Der 14-Jährige Saw Eh Kue.

Die mit der Pandemie verbundenen Restriktionen schränken nicht nur den Schulbetrieb massiv ein, sondern erschweren es auch vielen Eltern, ihre Familien zu ernähren. Die Meisten arbeiten als Tagelöhner in der Landwirtschaft, als Strassenverkäufer oder auf der Müllhalde, wo sie Abfall trennen. «Für meine Eltern ist es schwierig geworden, Arbeit zu finden», erzählt die 14-Jährige Saw Eh Kue.

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Die Covid-Pandemie und die damit verbundenen Grenzschliessungen zwangen viele Kinder und Jugendliche wie Saw Lay Kler Htoo, sich zwischen Schule und Familie entscheiden zu müssen.

Saw Lay Kler Htoo besucht die zwölfte Klasse. Seit dem Ausbruch der Pandemie ist er von seinen Eltern getrennt. Sie sind in Myanmar, er in Thailand. Besuchen kann er sie nicht. Die Unterstützung aus dem Projekt – die Grundnahrungsmittel sowohl als auch Hygieneartikel und Schulmaterial – helfe ihm sehr. In der momentanen Situation könne er nicht herumgehen, um nach Essen zu suchen. «Und da ich noch Student bin, kann ich auch keine Arbeit finden, um etwas zu verdienen.»

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Wie U-Saw haben viele Familien während der Pandemie ihr Einkommen verloren. Umso dankbarer sind sie für die Hilfe aus dem Projekt.

Die Kinder von U-Saw besuchen ein anderes Lernzentrum namens Morning Glory. Der 44-Jährige hat seine Familie bisher als Strassenverkäufer durchgebracht. Seit der Pandemie sei alles anders: «Ich habe mein Einkommen verloren und kann meine Familie nicht mehr ausreichend versorgen.» Dazu kommt, dass sein Sohn bei einem Unfall ein Bein verloren hat und seither nicht mehr zur Schule gehen kann. Die Unterstützung aus dem Projekt können er und seine Familie darum mehr als gebrauchen. «Ich bin sehr glücklich und dankbar.»

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Da die Lernzentren für Migrantenkinder aufgrund der zahlreichen Covid-Präventions-Massnahmen nicht öffnen können, hat Rorgokrgi andere Wege gesucht, ihre Schülerinnen und Schüler zu erreichen.

Rorgokrgi arbeitet am Morning Glory Lernzentrum als Kindergärtnerin. Da Online-Unterricht bei ihren Schützlingen altersbedingt kein Thema ist, versucht sie diese wenn immer möglich Zuhause zu besuchen. Dies sei anfangs mit Bewilligung der Behörden noch möglich gewesen. «Seit die Fallzahlen in unserer Region wieder gestiegen sind, musste ich die Besuche einstellen», berichtet die 54-Jährige. Unter den strengen staatlichen Vorschriften sei eine baldige Rückkehr ins Lernzentrum nicht in Sicht. «Wir sind sehr froh, dass uns das Projekt in dieser schwierigen Zeit mit dem Nötigsten helfen kann.»

Kinder erzählen

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«Mein Name ist Anna. Ich besuche die 6. Klasse am Thoo Mweh Khee Lernzentrum. Ich komme aus Gawlay, einem Ort im Karen-Staat. Ich kann immer noch lernen, aber ich vermisse meine Freunde. Viele von ihnen sind mit dem Ausbruch der Pandemie nach Myanmar gegangen und können jetzt nicht mehr zurückkehren. Vorher waren 30 Schülerinnen und Schüler in meiner Klasse, jetzt nur noch 7. Ich vermisse auch meine Eltern, da ich nicht nach Myanmar gehen und sie besuchen kann. Darum wohne ich derzeit bei meiner Tante. Ich bin sehr glücklich, dass wir vom Projekt zusätzliche Lebensmittel, Notizbücher, Malbücher und Buntstifte erhalten habe. Ich male und zeichne sehr gerne. Das ist gut.»

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«Ich bin Hein Htet San und bin zwölf Jahre alt. Während COVID musste ich von Zuhause aus lernen. Anfangs kam mein Lehrer und besuchte mich. Leider gibt es in meinem Haus und in der Umgebung viel Lärm. Das lenkt mich ab. Ich kann dem Unterricht darum nicht so gut folgen. Am liebsten lerne ich in der Schule. Ich danke dem Projektteam, dass sie uns mit Essen und Lernmaterialien helfen. Ich bin sehr froh darüber.»

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