Zugfahrt in eine gerechtere Welt

Jugendliche aus Serbien, Moldawien und dem Bayerischen Jugendring, die Teil von einem der internationalen Austauschprojekte der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi sind, nehmen uns mit auf ihre Zugfahrt in eine gerechtere Welt. Halt machen wir dabei an verschiedenen Kinderrechten.

iap_srb-md-bjr_1

An diesem Morgen nehmen die Gruppen aus Serbien, Moldawien und dem Bayerischen Jugendring im Rahmen ihres internationalen Austauschprojekts an einem dreiteiligen Workshop zum Thema Kinderrechte teil. Es ist einer von verschiedenen Inputs, welche die 13- bis 15-Jährigen in den rund zwei Wochen, die sie im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen verbringen, erhalten. Bis anhin standen vor allem die Themen Identität und interkulturelle Begegnung, also das gegenseitige Kennenlernen, auf dem Programm – doch dass man sich nach zwei Tagen noch immer ein wenig fremd erscheinen darf, zeigt auch die ruhige Atmosphäre im Klassenzimmer von Pädagoge Julian Friedrich und Praktikantin Marina Hug. Oder ist die Stille den frühen Tagesstunden geschuldet? Auf jeden Fall erhält Marina auf ihre Frage, was die Jugendlichen bereits über die Kinderrechte wissen, nur ein paar wenige, spärliche Antworten. Das soll sich jedoch bald schon ändern, denn anschliessend nehmen die Schüler*innen im Nebenzimmer Platz. Länderdurchmischt und in Viererabteilen, wie man sie von einer klassischen Zugfahrt kennt.

Ein Kinderrecht für jeden Stolperstein

Nun werden sie von Marina dazu ermuntert, zwölf der insgesamt 41 Kinderrechte, die vor ihnen liegen, der Wichtigkeit nach in einer Pyramide anzuordnen – die restlichen werden vorerst beiseitegelegt. Und während die Jugendlichen dabei langsam auftauen, beginnt auch schon ihre spielerische Gedankenreise: «Ihr seid unzufrieden. Denn euer Land hat sich zwar für die Kinderrechte entschieden, aber nun kümmert es sich gar nicht darum, dass diese auch eingehalten werden. Also macht ihr euch selbst auf den Weg zum Präsidenten oder der Präsidentin – mit den für euch wichtigsten zwölf Kinderrechten im Gepäck.» Das Ziel dieser Reise? Am Ende auch mit möglichst vielen Kinderrechten beim Präsidenten oder der Präsidentin ankommen.

iap_srb-md-bjr_7

Unterwegs legen Marina und Julian den Jugendlichen Steine in den Weg. Sie verirren sich und müssen nach dem Weg fragen, drängeln vor dem Ticketschalter vor, um den nächsten Zug noch rechtzeitig zu erwischen oder machen sich daran, einen Bahnhof behindertengerecht umzubauen. Jeder Stolperstein steht für ein Kinderrecht. Und für jedes Mal, bei dem sie zur Bewältigung Unterstützung in Anspruch nehmen, bezahlen sie mit einem «Ticket», auf dem ebenfalls ein Recht abgebildet ist. Ausser es ist Teil der Pyramide, die sie anfangs gelegt haben. Dann dürfen sie ihr Kinderrecht behalten.

Diskriminierung, Identität und Gesundheit

Je nachdem, wie die Vierergruppen ihre Kinderrechte ausgewählt haben, kommen sie mit mehr oder weniger Tickets an ihrem Ziel an. Sie alle jedoch haben während dieser kurzen Zugfahrt viel gelernt über die Rechte, die ihnen selbst zustehen. Das wird denn auch in der abschliessenden Diskussionsrunde deutlich, als Marina dieselbe Frage stellt wie zu Beginn des Workshops – und viele hoffnungsvolle, spannende und überlegte, teilweise aber auch mutlose Antworten darauf erhält. Die Jugendlichen empfinden vor allem das Diskriminierungsverbot (Art. 2 der UN-Kinderrechtskonvention), das Recht auf Identität (Art. 8) sowie das Recht auf Gesundheitsvorsorge (Art. 24) als sehr wichtige Kinderrechte – und sehen diese gleichzeitig in ihren Heimatländern Serbien, Moldawien und Deutschland als am häufigsten verletzt.

iap_srb-md-bjr_15

Die jungen Erwachsenen geben ihre Kinderrechts-Tickets danach zwar wieder an Marina und Julian ab, damit sich die nächste Gruppe ebenfalls auf die eindrückliche Reise machen kann – nehmen jedoch einiges an Wissen mit in die nächsten beiden Workshops mit. Die Praktikantinnen Azra Al-Holw und Aida Brülisauer erwarten sie bereits.

Farbige Ideen werden zu konkreten Plänen

Auch in den zwei anderen Teilen des Workshops sind die Kinderrechte zentral. Azra fängt an mit einer knackigen Aufwärmrunde, in der sich die Jugendlichen für die eine oder andere Seite entscheiden müssen: Pizza oder Hamburger? Katze oder Hund? Geld oder Glück?

Das Spiel hilft dabei, sich selbst und die anderen besser kennenzulernen. Auf einer tiefgründigeren Ebene dient es aber hauptsächlich dazu, den Fokus auf das Ausdrücken der eigenen Meinung zu legen. Oder anders gesagt: Auf das Recht auf Partizipation (Art. 12). Dieses wird nämlich im Hauptteil zum wichtigen Thema, wenn sich die in kleine Gruppen aufgeteilten Schüler*innen mit der Frage auseinandersetzen, wo und von wem sie gehört werden – und wie sie sich Gehör verschaffen können.

Aida macht in einem ähnlichen Rahmen weiter, lässt die Schülerinnen und Schüler in ihrem Workshop allerdings sehr kreativ werden: Auf einem Kartonschulhaus sollen sie alles aufschreiben, was ihnen an der Schule missfällt – es sind nicht wenige Begriffe, die mit bunten Stiften und kreuz und quer auf die Wände und das Dach geschrieben werden. Fast gleich viele Begriffe erklären danach aber auch, was die Jugendlichen an ihrer Schule schätzen. Und zuletzt machen sie auch hier wieder eine Reise: in die Zukunft. Auf farbigen Luftballons werden Lösungen, aber auch Wünsche und Träume zur Verbesserung der Situation in der eigenen Schule festgehalten.

rs23501_iap_srb-md-bjr_49
Die Ballons werden zum Schluss am Dach befestigt – abheben tut das Schulhaus allerdings nicht. Schliesslich sollen die Ideen der Teilnehmenden nicht verfliegen, sondern am Ende des Austauschprojekts mit nach Hause genommen und dort mithilfe von konkreten Aktionsplänen umgesetzt werden.
damian_zimmermann_-_leiter_programme_schweiz_-_stiftung_kinderdorf_pestalozzi
«Unsere Bildungs­angebote richten sich an die heutige multi­kulturelle Gesellschaft der Schweiz.»

Damian Zimmermann
Leiter Programme Schweiz
Mitglied der Geschäftsleitung

d.zimmermann@pestalozzi.ch